Das unterschiedliche Leben von Sarah und Luise

Das unterschiedliche Leben von Sarah und Luise

24.03.2016

Sarah – Gefangen als Eiermaschine

Sarahs Leben ist von Beginn an nur einem Zweck unterworfen: profitbringend Eier zu produzieren. Die Wärme der mütterlichen Glucke erfährt sie nicht; ein Brutkasten, gereiht an dutzende andere in einer sterilen Halle, übernimmt diese Aufgabe. Zu tausenden warten die ungeborenen Küken darauf, ins Leben zu treten, doch sie erwarten nur kaltes Licht und die monotonen Geräusche einer Produktionsstätte. In Kisten verpackt werden sie auf ein Fließband geworfen, sortiert und herumgeworfen wie Pakete.

Kein Platz für Hähne

Für die Hälfte der Küken ist der Tag ihres Schlüpfens zugleich auch ihr letzter. Sarahs Brüder haben keinen Platz im System der Tierfabrik, ihr Fleisch ist nicht vermarktbar, sie legen keine Eier. Gestapelt in Plastikkisten und unter aufgeregtem Piepsen werden die kleinen Hähne in die Gaskammer befördert. Dort werden sie bis zu einer Minute mit dem Erstickungstod kämpfen müssen, bevor sie endgültig verstummen.

Das triste Leben in der Tierfabrik

Sarahs Weg ist ein längerer. Als sie und ihre tausenden Schwestern in die Halle befördert werden, erhascht sie kurz einen Blick auf Bäume, den freien Himmel und kann die frische Luft in ihrem flauschigen Federkleid spüren. Es soll die einzige Erfahrung dieser Art gewesen sein. Fortan wird sie ihre Tage, reduziert zu einer Eiermaschine, innerhalb der kahlen Wände der Tierfabrik verbringen.  Das grelle Neonlicht blendet, die Luft ist schwer und vom Ammoniak beißend und stechend. Die Halle ist erfüllt vom unaufhörlichen Gackern der zigtausend Hühner, die dicht an dicht vom Boden bis zu Etagenkäfigen eingepfercht sind. Sarah möchte nach Futter scharren, ihre Flügel spannen, ein Nest bauen und mit ihren Schwestern die Gruppenrangordnung ausleben. Nichts davon ist dem sensiblen Tier vergönnt.

Nach und nach weichen die ihr angeborenen Verhaltensweisen und wandeln sich in Verhaltensstörungen um. Aus extremem Platz- und Beschäftigungsmangel wenden sich die Tiere in ihrer Verzweiflung gegen ihre Artgenossen. Federpicken und gar Kannibalismus sind bei diesen Besatzungsdichten die Norm. Auch Sarah hat bereits kahle Stellen in ihrem braunen Federkleid, das nun blutverschmiert und zerzaust ein erbärmliches Bild bietet. Ihr Körper ist nicht nur von außen geschunden, auch innerlich leidet die Henne durch die von ihr verlangte Legeleistung. Fast jeden Tag muss Sarah ein Ei legen, während ihre wilden Vorfahren lediglich ein bis zwei pro Monat erbrachten. Ihr Eileiter ist entzündet, ihre Knochen brüchig und der Gitterboden hat ihre Zehen verkrüppelt. Ständige Schmerzen und Stress sind ihre täglichen Begleiter. Das künstliche Licht brennt weiter, während es draußen schon dunkelt.

Von der Eiermaschine zum Suppenhuhn

Sarahs kleiner Körper ist fast aufgebraucht, die hohe Legefrequenz geht zurück. Ihrem Besitzer erbringt sie so kein Geld mehr. Sie hat ihren Zweck erfüllt und ihr Leben erfährt nun sein kalkuliertes Ende. Nach 12 Monaten Leben in Enge, Stress und Schmerzen wird sie zusammen mit ihren tausenden Leidensgenossinnen, so systematisch und industriell wie sie gelebt hat, auch getötet. Ihr ausgezehrter Körper wird zum Suppenhuhn, zur Hühnerbrühe oder Tierfutter verarbeitet. Während Sarah kopfüber ins Elektrobad taucht, brechen bereits die Küken der nächsten Generation durch ihre Eierschalen und wiederholen den grausamen Zyklus.

Luise – Ein wahres Hühnerleben

Luise ist auf einem Lebenshof, umgeben von weitläufigen Wiesen und Bäumen, geschlüpft. Sie kennt keine Gitterböden, Käfige oder Neonlicht. Bereits als kleines Küken darf sie auf dem weichen Boden nach Futter picken und scharren sowie mit ihren Geschwistern, unter den wachsamen Augen des Mutterhuhnes, die Gegend erkunden. Fröhlich piepsend flattert Luise mit ihren kleinen Flügelchen und beäugt neugierig ihre großen Schwestern, wie diese Würmer aus der Erde picken.

Nach und nach weicht Luises gelber Flaum einem prächtigen braunen Federkleid, mit welchem sie stolz vor ihren Kameradinnen flaniert. Sie lebt in einer Gruppe von 15 Tieren, alle erkennen sich untereinander und wissen um ihren Platz in der Rangordnung. Der majestätische Hahn mit seinen tiefgrünen Schwanzfedern wacht über die kleine Herde. Luise ist nach rund 5 Monaten selbst alt genug, um Mutter zu werden. Gespannt und voller Vorfreude sucht sie sich einen passenden Platz für ihr erstes Nest, welches sie dann mit Zweigen und Gräsern für ihr erstes Küken baut. Ihrer Schwester Sarah aus der Legefabrik blieb diese schöne Erfahrung verwehrt. Ihre Eier waren nicht für sie bestimmt, sondern endeten als billige Zutat für Nudeln, Gebäck oder als Frühstücksei im Discounter. 

Luise wärmt ihre Eier in ihrem kleinen Nest sorgfältig und nach drei Wochen ist es soweit: Das erste Küken bricht erwartungsvoll die Schale auf. Die Bindung zwischen Mutter und Baby ist bereits vor dem Schlüpfen geknüpft: Ihr Gackern wird von den Kleinen gehört und gibt ihnen Sicherheit. Ein wenig Hilfe braucht es noch. Luise bricht mit ihrem Schnabel ein wenig der Schale weg und schubst es sogleich wieder unter ihr warmes Federkleid. In den nächsten Wochen wird Luise ihre Schützlinge heranwachsen sehen, so wie sie sich selbst einst zu einem prächtigen Huhn entwickelt hat. Hier auf dem Hof dürfen die Tiere unbeeinträchtigt von menschlicher Profitgier ihr Leben führen, ihre Persönlichkeiten entwickeln, sich untereinander austauschen und die Natur spüren. Luise läuft flatternd über die Wiese auf der Suche nach mehr Würmern und Körnern, ihre kleinen Küken immer dicht hinter ihr.

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